KRISEN – HILFSPAKETE – REGELBRÜCHE

Europa auf der Suche nach neuen geld- und fiskalpolitischen Spielregeln im Rahmen der EUROPÄISCHEN BRIEFE der Europa-Gesellschaft Coudenhove-Kalergi von Hon.Prof.Dr. Wilfried Stadler, Wien Europa hat in der Finanz- Staatsschulden- und Coronakrise eine beachtliche Lernfähigkeit unter Beweis gestellt. Immer dann, wenn sich die Lage finanz- oder fiskalpolitisch zuspitzte, kamen bisher nicht eingesetzte, unkonventionelle Instrumente zur Anwendung, die das Schlimmste verhinderten. Liquiditätshilfen, Garantien, Rettungsschirme und Hilfspakete stellen im Zusammenspiel der Europäischen Union mit der Europäischen Zentralbank bis dato sicher, dass auf Krisenphasen wieder Zeiten weitgehend störungsfreier wirtschaftlicher Entwicklung folgen. Diese im übertragenen Sinn „intensivmedizinische“ Behandlung fiskalischer wie monetärer Problemlagen zeitigt allerdings nicht nur hohe materielle Folgekosten sondern auch Verluste an Glaubwürdigkeit der handelnden Institutionen. Um diese in Hinkunft zu vermeiden und den Weg in eine neue Normalität des Finanzsystems freizumachen, erweist es sich als notwendig, den institutionellen Aufbau ebenso wie die Spielregeln der Geld- und Finanzpolitik auf Zukunftstauglichkeit zu überprüfen und, wo erforderlich, zu erneuern. Im Rückblick zeigt sich, dass Europa auf die in Folge der Finanzkrise 2008 gestiegenen Staatsschulden der Euro-Mitgliedsstaaten zunächst mit großer Verzögerung reagierte. Erst im Sommer 2012, als der Zusammenhalt der Währungsunion durch sich immer weiter auseinander entwickelnde Anleihe-Renditen bereits ernsthaft gefährdet war, fiel die Entscheidung für einen koordinierten Einsatz neuer Instrumente. Begleitend zum „Whatever it takes“ des damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi richtete die EU den permanenten Rettungsschirm ESM ein. Internationalen Gläubigern wurde damit glaubwürdig verdeutlicht, dass Mitglieder der Eurozone nicht im Stich gelassen werden. Nach Ausbruch der Corona-Krise leistete man sich keine derartigen Verzögerungen mehr. Diesmal war man sich der Risiken einer latenten Ansteckungsgefahr der durch Zwischenbanken-Schuldbeziehungen und Staatsanleihen anderer Mitgliedsländer verflochtenen Euro-Staaten bewusst. Als es gleich nach Bekanntwerden der Epidemie zu einem ersten Anstieg der Anleiherenditen von Staaten wie Italien oder Spanien im Vergleich zur Deutschen Bundesanleihe gekommen war, fiel unverzüglich die Entscheidung für ein umfassendes Anleihe-Ankaufsprogramm. Unmittelbar darauf kam es zum erhofften Rückgang der Anleiherenditen der betroffenen Staaten auf das ursprüngliche Niveau. Der diskrete Beschluss, in Abweichung von den bis dahin geltenden Bestimmungen Anleihen von Euro-Mitgliedsländern auch dann anzukaufen, wenn sie mehr als ein Drittel von deren jeweiligen Staatsschulden ausmachen, unterstützte diese rasche Normalisierung. Die EU schnürte komplementär dazu ein umfassendes Maßnahmenpaket, dessen wichtigster Bestandteil das „Next Generation EU“ getaufte Corona-Hilfspaket mit einem Gesamtvolumen von EUR 750 Mrd. darstellt. Die dafür erforderlichen Mittel werden erstmals durch Platzierung von Gemeinschaftsanleihen aufgebracht. Von einigen ihrer Befürworter wird diese Finanzierungsform als einmalige, der Krise geschuldete Abweichung von der bisherigen Praxis eingestuft. Andere sehen darin einen ersten Durchbruch auf dem Weg zu einer künftigen Fiskalunion. Der den Euro begründende Vertrag von Maastricht, in dem die fiskalische Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten und ein „No-bail-out“-Gebot fixiert wurde, wäre damit allerdings ebenso außer Kraft gesetzt wie das darin festgehaltene Regelwerk zur Einhaltung von Verschuldungsgrenzen. Wie es um die politische Akzeptanz der mit der gemeinschaftlichen Verschuldung verbundenen, faktischen Änderung der EU-Verfassung am Ende bestellt sein wird, dürfte vor allem davon abhängen, ob es – wie derzeit beabsichtigt – gelingen kann, die Rückzahlung aus neu zu schaffenden, gesamteuropäischen Steuerquellen zu bewerkstelligen. Neben einer bereits vorakkordierten Plastiksteuer geht es dabei um CO2-Abgaben und eine Digitalsteuer. Beide stecken konzeptionell noch in den ersten Anfängen. Zur künftig ergiebigsten Quelle soll ausgerechnet jene Finanztransaktionssteuer werden, deren schon vor mehr als einem Jahrzehnt ins Auge gefasste Einführung nach massivem Widerstand der dagegen arbeitenden Lobbys zuletzt im Sande verlaufen war. Sollte die Einigung auf zusätzliche Steuerquellen nicht gelingen, bliebe es in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten, aus ihren Budgets für die zusätzlichen Verpflichtungen aufzukommen – zuzüglich zu den angesichts der Corona-bedingt ohnehin massiv ansteigenden Staatsschulden. Wie die höheren Schuldenstände mittel- bis langfristig normalisiert werden können, wird erst seriös einzuschätzen sein, wenn das endgültige Ende der Pandemie absehbar ist. Dennoch sollte schon jetzt eine Diskussion über adaptierte, der vorherrschenden Zins- und Inflationslage angepasste Maßstäbe für budgetäre Verschuldungsgrenzen beginnen. Der bisher als Obergrenze geltende, 60-prozentige Anteil der Staatsschuld am jeweiligen Bruttosozialprodukt liegt für die Mehrheit der Euro-Länder auf absehbare Zeit jedenfalls außer Reichweite. Diese Messlatte unverändert weiter zu verwenden, hieße daher, sich auf das Risiko einer quälenden Austeritätspolitik mit all ihren sozialen und politischen Folgen einzulassen. Nicht nur der Fiskalrahmen ist neu zu definieren – auch die Europäische Zentralbank steht vor Anpassungserfordernissen ihrer strategischen Ausrichtung. Denn immer offenkundiger wird, dass das ausgeschilderte Ziel, mit Anleihekäufen sowie Niedrigzinsen einerseits die Konjunktur zu stützen und andererseits eine Inflation von knapp unter zwei Prozent über den gesamten Euroraum erzielen zu wollen, wohl nur einen Teil der Wahrheit abbildet. Realitätsnäher erscheint hingegen die durchaus ehrenhafte Arbeitsannahme, dass die hohen Anleihekäufe in erster Linie dem Zusammenhalt des Euro dienen, während die damit einhergehende Nullzinspolitik längst unverzichtbar geworden ist, um die Kosten der steigenden Staatsschulden der Mitgliedsstaaten in beherrschbaren Größenordnungen zu halten. Sofern die offenkundig sachnotwendige Verfolgung dieser Ziele geltenden Spielregeln widerspricht, sollte dies mehr als bisher zum Gegenstand eines konstruktiven Diskurses werden. Dieser sollte die unerwünschten Nebenwirkungen der Niedrigzinsen auf das Investitions- und Sparverhalten ebenso mit einschließen wie die verteilungspolitischen Folgen inflationärer Steigerungen von Immobilienpreisen und der Aufblähung von Aktienblasen. Die dauerhafte Verdrängung der währungspolitischen Zweckrationalität der aktuellen Notenbankpolitik sowie der Notwendigkeit einer grundlegenden Revision der geltenden Fiskalregeln würde auf lange Sicht zu einer gefährlichen Vertrauenskrise gegenüber EU und EZB führen. Vor allem deshalb braucht Europa eine Erneuerung seiner Finanzarchitektur. Je offener mit der Frage umgegangen wird, wie sie künftig aussehen soll, desto besser kann der erhoffte Übergang in einen zukünftigen finanzmarktpolitischen „Normalbetrieb“ gelingen. Dr.Wilfried Stadler ist Honorarprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien, Ökonom, Publizist und Mitherausgeber der österreichischen Wochenzeitung Die FURCHE

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