Klassiker des europäischen Denkens - 700 Jahre europäische Kulturgeschichte

Published by the European Society Coudenhove-Kalergi, Secretary General Heinz Wimpissinger

Prof. Dr. Gerhard Sabathil, Direktor im Europäischen Auswärtigen Dienst

Um mit dem vielleicht überraschendsten und aktuellsten zu beginnen: Wussten Sie, daß die Wurzeln der europäischen Integration vor 700 Jahren in einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und keineswegs nur in idealistischen inneren europäischen Harmoniebestrebungen, gemeinsamen Wertvorstellungen oder wirtschaftlichen und Wohlstandserwägungen gründen?

Sowohl das Traktat Pierre Dubois´aus dem Jahr 1306, als auch die Briefe des Piccolomini-Papstes Pius II. und der Europaplan des ostböhmischen Fürsten Georg von Podiebrad aus dem 15. Jahrhundert sehen die Vereinigung Europas als Vorbedingung und Mittel, um das Abendland erfolgreicher in die Kreuzzüge zur Rückeroberung der christlichen Stätten im Nahen Osten zu führen.

Machtpolitik, äußere Bedrohung und der gemeinsame Feind sind also nicht erst seit der erfolgreichen Einigung des Kontinents im und nach dem Kalten Krieg bis 1989 und der Geburt der heutigen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik im Maastricht-Vertrag als Antwort auf den kriegerischen Zerfall Jugoslawiens Antriebsfeder europäischen Denkens. Auch der entscheidende Anstoß von Jean Monnet 1950 zur Integration der kriegsentscheidenden Montanindustrien der Erbfeinde Deutschland und Frankreich geht ja auf dessen eigenes Wirken für die logistische Integration der englisch-französischen Rüstungswirtschaft im ersten und der Einbeziehung der Vereinigten Staaten im zweiten Weltkrieg zur Eroberung der Lufthoheit gegenüber Deutschland zurück. Erst und nur die institutionelle Integration schaffte den entscheidenden Mehrwert gegenüber einer bloßen Kooperation der Nationalstaaten, um einen dauerhaften und dynamischen Staatenverbund zu führen, so die seit nunmehr 63 Jahren bewährte und sprichwörtliche Methode Monnet.

Darüber hinaus immer noch aktuell in der Enzyklopädie des Emeritus für internationale Politik der RWTH der Europastadt Aachen Winfried Böttcher ist, wie schon die drei Urväter spätere EU-Konzepte in ihren Ideen vorwegnahmen: sowohl die französische Hegemonievorstellung bei Dubois als auch die christliche Wertebegrünung von Pius II. wie auch das Europa der Fürstenregionen des hussitischen Fürsten Georg flackern auch in zeitgeschichtlichen EU-Diskussionen naturgemäß wieder auf.
Viele weitere der hundert in dieser historischen Fundgrube der Europawissenschaften versammelten Europaideologien verdienten hier Erwähnung, aber wie kann man in einer Besprechung einem solchen Sammelwerk überhaupt gerecht werden? Auf fast 800 Seiten breitet Böttcher mit seinem äußerst kundigen 69-köpfigen Autorenteam, darunter sogar den Präsidenten Jean-Claude Juncker, der gleich zwei seiner Vorgänger als luxemburgische Ministerpräsidenten Joseph Bech und Pierre Werner porträtiert, und Martin Schulz, der auch das Geleitwort des Buches verfasste, hundert klassische Friedens- und Europavorstellungen aus sieben Jahrhunderten und 14 Ländern aus, dem er Grundlagentexte über das europäische Erbe aus Antike und Mittelalter, einschließlich des Islam und Byzanz, voranstellt und mit einem optimistischen quo vadis und dem Vorschlag einer wirklichen Staatenfusion zwischen Frankreich und Deutschland abschließt. Dies mag zwar angesichts der heutigen zentrifugalen und Implosionsgefahren der Europapolitik mehr Wehmut als Hoffnung wecken, ist aber zweifellos der aktuellen europäischen Realidee einer Transferunion vorzuziehen. Kaum eine der europapolitischen Kontroversen wie zwischen den Intergouvermentalisten und Integrationisten, den Klein- und Großeuropäern, den Unitaristen und Föderalisten, den mehr krisengläubigen und den Utopisten, dem Primat von Wirtschaft oder Kultur, dem Eliteprojekt oder dem sozialen Europa, den christdemokratisch geprägten Anfängen und der mittlerweile säkular-laizistisch Ausprägung der EU bleibt unerwähnt.

Bedauern mag man die nur kursorische Erwähnung der Monarchia von Dante, das Fehlen der polnisch-tschechoslowakischen Unionsidee gegen die deutsche Übermacht als Nachkriegsmodell Mitte der vierziger Jahre, die historische Gestalt des einzigen europäischen Ehrenbürgers Helmut Kohl oder auch das Vorherrschen deutscher Europapläne, aber dafür werden eine Vielzahl verschütteter, geschichtlich verzerrter, im deutschen Sprachraum kaum bekannter oder nur akademischen Europäern geläufige Vorstellungen ins rechte Licht gerückt oder zu neuer Bedeutung erweckt. So verdienen es neben den eingangs erwähnten Ur-Europäern besonders die Beiträge über den multinationalen Paneuropäer Richard Coudenhove-Kalergi, Werner Weidenfelds Würdigung des flexiblen Pragmatismus Konrad Adenauers, Stefan Koppelbergs prägnante Charakterisierung des politisch durchdringendsten und wohl bald beatifizierten Robert Schuman, die Beschreibung meines persönlichen Europahelden Jean Monnet, der deutschen Europapioniere, nämlich des als Adenauers Staatssekretär für Außenpolitik faktisch ersten Außenministers der Bundesrepublik und Kommissionspräsidenten Hallstein und des ersten EWG-Wettbewerbskommissars von der Groeben, des eigentlichen Erfinders des Binnenmarktes, sowie die äußerst kenntnisreiche Beschreibung der jüngsten in dem Band enthaltenen Persönlichkeit, des 2011 verstorbenen tschechischen und vorher tschechoslowakischen Präsidenten Havel und seiner Präferenz einer europäischen Bürgergesellschaft durch seinen jungen Landsmann Andreas Kalina hervorgehoben zu werden. Unvermutet bringt das Buch aber auch europäische Gedankengänge und Spuren eher anderweitig ausgewiesener Philosophen, Staatsmänner und Schriftsteller wie Machiavelli, Erasmus, Hobbes, Kant, Peter dem Großen, Napoleon, Victor Hugo, Dostojewskij, Masaryk, Churchill, Schmitt, de Gaulle, Brandt oder Johannes Paul II. ins Licht der europawissenschaftlichen Spezialisten. Zu diesen gehören auch die leider nur vier (!) Darstellungen weiblicher Europadenker namentlich der französisch-feministischen Literatin Madame de Stael, mit ihrer frühen Bewunderung deutscher "soft power", der ersten Frau als Nobelpreisträgerin Bertha von Suttner, Rosa Luxemburgs und Hannah Arendts.

Kein Europabuch zum flotten querlesen mittels Kindle im Flugzeug oder Berufsverkehr, sondern ein 5 kg-Wälzer, der es aber verdient nicht nur öffentliche Bibliotheken sondern auch persönliche Bücherschränke zu bereichern, da er nicht nur als Nachschlagewerk europäischer Geistesgeschichte geeignet ist, sondern auch zum selektiven und wiederlesen der individuellen Biographien einlädt, wenn man sich das jahrhundertelange Ringen unseres Europa um Frieden, Freiheit und Demokratie und die nationale Entgrenzung von Rechtsstaatlichkeit auf die kontinentale Ebene vor Augen führen will. Ein Werk, das schnell auch in andere europäische Sprachen übersetzt werden sollte, nicht nur weil die Autobiographie Jean Monnet´s niemals englisch erschienen ist und man auf der Insel auch deshalb die europäische Integrationsidee bis heute nicht wirklich verstehen konnte, sondern auch weil fast zeitgleich mit dem französischen Buch "Notre Européanité" von Alfonso Mattera ein ähnlich schwergewichtiges Ouvre erschienen ist, den man beiden eine größere Leserschaft über die nationalen und Sprachgrenzen hinweg wünschen muß.


Rezension des von Prof. Böttcher verlegten Grundlagenwerkes paneuropäischer Biographien
Winfried Böttcher (Hrsg.), Klassiker des europäischen Denkens –Friedens- und Europavorstellungen aus 700 Jahren europäischer Kulturgeschichte, Nomos Verlag Baden-Baden 2014, 1. Auflage, ISBN 978-3-8329-7651-4, 786 Seiten


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