EUROPÄISCHE MISSION Frankreichs

Europäischer Brief der Europa-Gesellschaft Coudenhove-Kalergi
Verfasser: Martin Posselt, München
Koordinator: Heinz Wimpissinger 

 Paris wurde 2015 zweimal von Mörderhand angegriffen und verwundet. Mit ihren Attentaten im Januar und November wollten die islamistischen Terroristen nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa und den Westen treffen. Auf schreckliche Weise haben sie einen schon fast vergessenen Topos neu bekräftigt: Paris als den symbolischen Inbegriff der europäischen Zivilisation.

In Reaktion auf die November-Attentate rief François Hollande erstmals in der Geschichte den europäischen Bündnisfall nach Artikel 42 des EU-Vertrages aus. Die einmütige Solidarität der europäischen Partner hat gezeigt: Die europäische Wertegemeinschaft existiert, und sie ist bereit, sich zu verteidigen. Hollande hat die Hand an die Tür gelegt, die Europa durchschreiten muss, um aus der Krise zu kommen. Der Schlüssel dazu liegt in Paris.

Das annus horribilis 2015 markiert für Frankreich den bedrückenden Abschluss eines verlorenen Jahrzehnts. 2005 hatten die Franzosen in einem Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag erstmals Nein zu einem engeren politischen Zusammenschluss Europas gesagt. Im gleichen Jahr offenbarten gewalttätige Unruhen in den Vorstädten tiefe Risse im republikanischen Modell. Es folgte ein Jahrzehnt wirtschaftlicher Stagnation und wachsender Arbeitslosigkeit. Nicht nur ökonomische Reformen wurden versäumt, auch die Öffnung der Gesellschaft, eine neue Balance zwischen Zentrum und Regionen, eine Reform des Bildungswesens (zu der auch die Überwindung laizistischer Lebenslügen gehört). Die nationale Politik trat auf der Stelle - und Europa bezog die Prügel, weil es den Menschen als trojanisches Pferd der Globalisierung vorgeführt wurde.

Zur gleichen Zeit, 2005, kam Angela Merkel in Deutschland an die Regierung. In den zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft hat sie kein prosperierendes, starkes Frankreich an ihrer Seite gehabt. Der deutsch-französische Motor lief nicht mehr rund. Stattdessen wurde die Kanzlerin in die Rolle der europäischen Krisenaufseherin gedrängt. Deutsche Intellektuelle fingen an, von der Rolle ihres Landes als Zentralmacht des Kontinents zu schwafeln. Doch beim Aufbau Europas geht es um mehr als das Durchhaltevermögen bei Marathonsitzungen. Europa braucht eine Genesung aus der Herzmitte heraus.

Man hat dazu verschiedene Vorschläge gemacht. Neue Institutionen und Vereinbarungen für die Euro-Zone, wie z.B. eine „europäische Wirtschaftsregierung“ gehören dazu. Ich halte dies für den falschen Ansatz. Die Menschen brauchen zuerst eine politische Perspektive, sie müssen wieder Vertrauen fassen, bevor man über weitere Strukturen spricht. Diese Zukunftsperspektive muss zugleich eine Weiterentwicklung der deutsch-französischen Zusammenarbeit bringen. Die Unwucht im Motor muss beseitigt werden.

Europas Schicksal im 21. Jahrhundert entscheidet sich im Süden. Amerika wird sich –  auch nach Obama – am Mittelmeer, im Nahen Osten und in Afrika immer weniger engagieren. Dieses Gebiet ist der Verantwortungsraum Europas. Die EU muss eine gemeinsame Südpolitik entwickeln – mit großem Ernst und langem Atem. Alle Politikfelder, von der Außen- und Sicherheitspolitik bis zur Entwicklungs- und Forschungspolitik, müssen dabei ineinandergreifen.

Keine europäische Nation ist in dieser Region politisch so erfahren und zur Führung berufen wie Frankreich. Deutschland muss aktiv an die Seite Frankreichs treten und bereit sein, seine wirtschaftliche und zunehmend auch seine militärische Kraft für eine gemeinsame europäische Südpolitik einzusetzen. Dabei würde das deutsch-französische Führungsduo auch wieder mit besser ausbalancierten Rollen wahrgenommen werden als zuletzt. Italien und Spanien sowie die Gemeinschaftsinstitutionen der EU müssen eng eingebunden werden. So würden die Menschen wieder konkret spüren, dass Europa seinen Völkern ermöglicht, Souveränität und Einfluss in der Welt zu wahren. Der Schlüssel dazu liegt in Paris. Das Jahrzehnt der Melancholie wird zu Ende gehen, wenn Frankreich die Kraft zu inneren Reformen findet und seine europäische Mission neu entdeckt.

englische und französische Übersetzung verfügbar


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