EUROPÄISCHE MISSION Frankreichs
Europäischer Brief der Europa-Gesellschaft Coudenhove-Kalergi
Verfasser: Martin Posselt,
München
Koordinator: Heinz Wimpissinger
In Reaktion auf die
November-Attentate rief François Hollande erstmals in der Geschichte den
europäischen Bündnisfall nach Artikel 42 des EU-Vertrages aus. Die einmütige
Solidarität der europäischen Partner hat gezeigt: Die europäische
Wertegemeinschaft existiert, und sie ist bereit, sich zu verteidigen. Hollande
hat die Hand an die Tür gelegt, die Europa durchschreiten muss, um aus der
Krise zu kommen. Der Schlüssel dazu liegt in Paris.
Das annus horribilis 2015 markiert für Frankreich den bedrückenden
Abschluss eines verlorenen Jahrzehnts. 2005 hatten die Franzosen in einem
Referendum über den europäischen Verfassungsvertrag erstmals Nein zu einem
engeren politischen Zusammenschluss Europas gesagt. Im gleichen Jahr
offenbarten gewalttätige Unruhen in den Vorstädten tiefe Risse im
republikanischen Modell. Es folgte ein Jahrzehnt wirtschaftlicher Stagnation
und wachsender Arbeitslosigkeit. Nicht nur ökonomische Reformen wurden
versäumt, auch die Öffnung der Gesellschaft, eine neue Balance zwischen Zentrum
und Regionen, eine Reform des Bildungswesens (zu der auch die Überwindung
laizistischer Lebenslügen gehört). Die nationale Politik trat auf der Stelle -
und Europa bezog die Prügel, weil es den Menschen als trojanisches Pferd der
Globalisierung vorgeführt wurde.
Zur gleichen Zeit, 2005, kam
Angela Merkel in Deutschland an die Regierung. In den zehn Jahren ihrer
Kanzlerschaft hat sie kein prosperierendes, starkes Frankreich an ihrer Seite
gehabt. Der deutsch-französische Motor lief nicht mehr rund. Stattdessen wurde
die Kanzlerin in die Rolle der europäischen Krisenaufseherin gedrängt. Deutsche
Intellektuelle fingen an, von der Rolle ihres Landes als Zentralmacht des
Kontinents zu schwafeln. Doch beim Aufbau Europas geht es um mehr als das
Durchhaltevermögen bei Marathonsitzungen. Europa braucht eine Genesung aus der
Herzmitte heraus.
Man hat dazu verschiedene
Vorschläge gemacht. Neue Institutionen und Vereinbarungen für die Euro-Zone,
wie z.B. eine „europäische Wirtschaftsregierung“ gehören dazu. Ich halte dies
für den falschen Ansatz. Die Menschen brauchen zuerst eine politische
Perspektive, sie müssen wieder Vertrauen fassen, bevor man über weitere
Strukturen spricht. Diese Zukunftsperspektive muss zugleich eine
Weiterentwicklung der deutsch-französischen Zusammenarbeit bringen. Die Unwucht
im Motor muss beseitigt werden.
Europas Schicksal im 21.
Jahrhundert entscheidet sich im Süden. Amerika wird sich – auch nach Obama – am Mittelmeer, im Nahen
Osten und in Afrika immer weniger engagieren. Dieses Gebiet ist der
Verantwortungsraum Europas. Die EU muss eine gemeinsame Südpolitik entwickeln –
mit großem Ernst und langem Atem. Alle Politikfelder, von der Außen- und
Sicherheitspolitik bis zur Entwicklungs- und Forschungspolitik, müssen dabei
ineinandergreifen.
Keine europäische Nation ist
in dieser Region politisch so erfahren und zur Führung berufen wie Frankreich.
Deutschland muss aktiv an die Seite Frankreichs treten und bereit sein, seine
wirtschaftliche und zunehmend auch seine militärische Kraft für eine gemeinsame
europäische Südpolitik einzusetzen. Dabei würde das deutsch-französische Führungsduo
auch wieder mit besser ausbalancierten Rollen wahrgenommen werden als zuletzt.
Italien und Spanien sowie die Gemeinschaftsinstitutionen der EU müssen eng
eingebunden werden. So würden die Menschen wieder konkret spüren, dass Europa
seinen Völkern ermöglicht, Souveränität und Einfluss in der Welt zu wahren. Der
Schlüssel dazu liegt in Paris. Das Jahrzehnt der Melancholie wird zu Ende
gehen, wenn Frankreich die Kraft zu inneren Reformen findet und seine
europäische Mission neu entdeckt.
englische und französische Übersetzung verfügbar
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