Kann eine europäische Erinnerungskultur vor falschen historischen Narrativen schützen?
von Maren Schoening, Autorin und Unternehmensberaterin für die EUROPÄISCHEN BRIEFE
In wenigen Wochen jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 80. Mal. Über Jahrzehnte waren wir davon überzeugt, dass alle Fassetten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erforscht wären und wir daraus die richtigen Schlüsse für unser Zusammenleben gezogen hätten. Heute stellen wir fest: Wir haben uns geirrt. Zahlreiche Regierungen und Parteien in ganz Europa bedienen sich Narrativen, die sich an die braunen Machthaber anlehnen oder historische Erkenntnisse negieren. Geschichte wird damit zur Waffe, die sich in den Sozialen Medien in rasender Geschwindigkeit verbreitet. Das Narrativ einer faschistischen und nazistischen Machtclique in der Ukraine dient Russland als Legitimation für seinen völkerrechtswidrigen Angriff auf das Land. Die russische Erzählung, wonach die Ukraine kein eigenes Volk mit einer eigenen Geschichte sei, dient als Russland als Rechtfertigung für die Vernichtung der geschichtlichen und kulturellen Identität der Ukraine. Tagtäglich zerstört Russland ukrainische Kulturgüter, raubt Kunstschätze und plündert Museen, Bibliotheken und Archive. Es ist völlig unverständlich, wie Parteien und Regierungen diesen Erzählungen folgen und ihre eigenen Darstellungen von „Friedensfreunden“ und „Kriegstreibern“ verbreiten. Jeder vernünftig denkende Mensch will Frieden, aber eben keinen Diktatfrieden, der den Täter belohnt und zu weiterer Aggression in der Mitte Europas verleitet.
In Deutschland betreiben Vertreter der AfD einen ähnlichen Geschichtsrelativismus: sie verharmlosen die SS, nennen sich selbst „das freundliche Gesicht des NS“, fordern die „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ und verunglimpfen die sich über Jahrzehnte herausgebildete deutsche Erinnerungskultur als „Schuldkult“. Die Nutzung antisemitischer Konnotationen oder die Verwendung von Buzzwords wie zum Beispiel „Remigration“, „Lügenpresse“, „Volksgemeinschaft“ und „88“ werden gezielt eingesetzt. Die Sozialen Medien spielen hier ebenfalls eine herausragende Rolle.
Was können wir tun, da jetzt die letzten Zeitzeugen sterben, die uns als Bindeglied zur Vergangenheit und als moralische Instanzen fehlen werden, und das europäische Lebensmodel von innen und außen angegriffen wird? Erinnern wir uns, dass auch Richard Coudenhove-Kalergi unmittelbar vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich aus Wien flüchten musste, weil er mit seiner paneuropäisch-globalistischen Weltsicht, seiner jüdischen Frau und von Hitler als eurasischer Bastard bezeichnet - verhöhnt und tödlich bedroht - nur so der physischen Vernichtung entkommen konnte.
Vor einem Jahr habe ich mit Kolleginnen und Kollegen das Éva-Fahidi-Dialogprogramm und eine Kooperation zwischen Éva Fahidis Geburtsstadt Debrecen und Stadtallendorf in Hessen, der Stadt ihrer Zwangsarbeit, initiiert. Hier wird Geschichte erlebbar, wie die 18-jährige Éva Fahidi nach Auschwitz deportiert, ihre Eltern und kleine Schwester ermordet und die junge Frau in die Zwangsarbeit verschleppt wurde. In diesem Programm stellen wir allgemeingültige Antworten den „alternativen Fakten“ gegenüber und verbinden historische Tatsachen mit persönlichen Biografien. So kann es gelingen, das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Formen des Erinnerns in Europa kennenzulernen, zu respektieren und historischen Ereignisse im europäischen Kontext einzuordnen.
Diese basisorientierte Auseinandersetzung mit der Geschichte kann auch als Blaupause für neue europäische Bande – auch zwischen deutschen und ukrainischen Gemeinden – dienen und gerade junge Leute gegen Propaganda schützen.
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