EUROPA mit mehreren Geschwindigkeiten

EUROPÄISCHE BRIEFE der Europa-Gesellschaft Coudenhove-Kalergi, Artikelverfasser Univ.Prof.em. Dr. Waldemar Hummer, Innsbruck In seiner Rede im Februar 2017 an der katholischen Universität Löwen zur „Zukunft Europas“ sprach sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker für ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten aus, ein Konzept, das sich auch im „Szenario 3: Wer mehr will, tut mehr“ des Weissbuchs der Kommission zur Zukunft Europas vom 1. März 2017 wiederfindet. Juncker sprach in diesem Zusammenhang auch von einem „Europa der konzentrischen Kreise“, die sich um einen Kern ausbreiten, den die 19 Euro-Länder bilden könnten. Obwohl das Weißbuch der Kommission keine Aussage über die Prioritäten für eine der in ihm enthaltenen fünf Varianten erkennen lässt, wird das Szenario 3 überwiegend als das realistischste und auch erfolgversprechendste, angesehen, was aber nichts anderes bedeutet, als die überwiegende Zustimmung zur Differenzierung des europäischen Integrationsprozesses in eine Union „mehrerer Geschwindigkeiten“. Auch der Vierer-Gipfel, zu dem Präsident Hollande am 6. März 2017 die Regierungschefs von Deutschland, Italien und Spanien in das Schloss von Versailles einlud, bestätigte dieses Modell als das wohl effizienteste für eine sinnvolle Umstrukturierung der Union. Da sich die Bedeutungsinhalte eines Europas der „verschiedenen Geschwindigkeiten“, der „konzentrischen Kreise“, eines „Kerneuropas“ uam aber begrifflich unterscheiden, muss man dabei immer von folgenden drei idealtypischen Modellen ausgehen: a) abgestufte Integration, b) differenzierte Integration und c) Europe à la carte. Ad a) Im Modell der abgestuften Integration gehen einige Mitgliedstaaten („Avantgarde“) schneller voraus und die anderen folgen erst später nach. Da die Nachkommenden das entsprechende Integrationsziel aber auch erreichen müssen, bezieht sich die Abstufung lediglich auf die Geschwindigkeit, nicht aber auf die Zielerreichung selbst, sodass diesem Modell kein desintegrativer Charakter innewohnt; Ad b) Im Gegensatz dazu schreiten bei der differenzierten Integration einige Mitgliedstaaten voran und bilden unter sich härtere Integrationskerne aus. Damit werden funktional ausdifferenzierte Teilintegrationen, im Sinne von „variablen Geometrie“, ausgebildet, die allerdings den anderen Mitgliedstaaten für eine eventuelle spätere Teilnahme daran auch offenstehen müssen. Sie müssen aber nicht verpflichtend aufschließen. Dieser Integrationsansatz enthält daher für den Integrationsprozess problematische zentrifugale und dysfunktionale Ansätze. Ad c) Im Modell eines Europe à la carte wiederum wird den Mitgliedstaaten die Wahl gelassen, in welchen Politikbereichen sie auf EU-Ebene überhaupt partizipieren wollen und in welchen nicht. Technischen Ausdruck findet dieses Modell in Form von „opt-outs“ bzw. „opt-ins“ einzelner Mitgliedstaaten, wie dies zB zugunsten des Vereinigten Königreichs und Dänemark bereits früher schon der Fall war und bei den Ausnahmebestimmungen für das UK zur Abwehr eines Brexit neuerdings wieder zum Einsatz kam. Dieses Modell ist integrationspolitisch deswegen negativ besetzt, da es zu einer großen Zersplitterung der einzelnen Integrationsbemühungen führen würde. In seinen Wirkungen ist das Modell „mehrerer Geschwindigkeiten“ mit dem einer „verstärkten Zusammenarbeit“ einiger Mitgliedstaaten verwandt, von diesem aber rechtsdogmatisch klar zu unterscheiden.

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