VOR 100 JAHREN - COUDENHOVE ENTDECKT PANEUROPA
Dr.Martin Posselt; TV-Journalist, München; EUROPÄISCHER BRIEF VOM 28.9. 2021
„Heute ist Europa Leidensgemeinschaft: morgen wird es, vielleicht, Arbeitsgemeinschaft sein. Will es mit den panbritischen, panamerikanischen, panrussischen, panmongolischen Wirtschaftsimperien der Zukunft konkurrieren, so muss es sich einigen; es hat nur die Wahl zwischen Untergang und Zusammenschluss.“
Vor 100 Jahren schrieb Richard Coudenhove-Kalergi diese Sätze. Sie geben seine Entdeckung Paneuropas wieder. Wie kam es dazu?
Die missglückten Friedensverträge von Versailles, St. Germain und Trianon machten den jungen Grafen vom Philosophen zum politisch engagierten Publizisten - und zugleich zum tschechoslowakischen Staatsbürger. 1920 besuchte er Präsident Masaryk in Prag. Masaryk bestärkte ihn, einen Artikel über die Nationalitätenfrage zu schreiben. Der Artikel sollte in der ersten Ausgabe der „Prager Presse“ erscheinen, wurde dort aber zunächst als zu pointiert abgelehnt. So publizierte Coudenhove seine Gedanken unter dem Titel „Czechen und Deutsche“ im September 1921 in Maximilian Hardens „Zukunft“. Darin heißt es:
„Geographisch ist Böhmen das Herz Europas: gebe Gott, dass es dereinst auch politisch dessen Herz werde! Heute ist es, leider, noch weit von diesem Ziel.“
Die sudetendeutsche Frage sei „die eigentliche Existenzfrage der Republik“, so der damals 26jährige. Und weiter: „Die tschechisch-deutsche Frage wurzelt in der europäischen; die deutsch-böhmische Frage ist nicht nur eine tschechische und deutsche, sondern vor allem eine europäische. Wird Europa, so wird alle Staatszugehörigkeit in diesem Erdteil bald belanglos sein; wird es nicht, so muss die nationale Kohäsion schließlich sich gegen alle staatsrechtliche Adhäsion-Zerfallerscheinungen durchsetzen. Gelingt es nicht, die Tschechoslowakei fest in Europa zu begründen, so muss sie, früh oder spät, zerfallen.“
So zieht er, an anderer Stelle, den Schluss: „Wer also an die Grenzen Böhmens rührt, rührt an den Frieden Europas.“
Nicht jeder wollte das glauben. Doch die Geschichte hat Coudenhove bestätigt. Als Hitler mit dem Kriegssäbel rasselte, hofften viele, ihn mit ein paar Gebietsgewinnen auf Kosten kleinerer Länder beschwichtigen zu können. In einer Radioansprache sagte der englische Premierminister Chamberlain 1938, wenige Tage, bevor er das Münchner Abkommen unterschrieb, zu seinen Landsleuten: „Wie furchtbar, phantastisch, unvorstellbar, dass wir hier Gräben ausheben und Gasmasken anpassen sollten, weil in einem weit entfernten Land Völker im Streit liegen, von denen wir nicht das Geringste wissen.“
Churchill hingegen wusste, wo Böhmen liegt. Und er wusste, worum es in Wahrheit ging. Ein Jahr später, am Tag der britischen und französischen Kriegserklärung an Deutschland, stellte er klar: „Wir kämpfen, um die Welt vor der Pestilenz der Nazi-Tyrannei zu bewahren und in Verteidigung dessen, was den Menschen heilig ist.“
Diese Überzeugung vereinte Richard Coudenhove-Kalergi, Charles de Gaulle und Winston Churchill. So wurden sie zu Vätern des freien und geeinten Europas, das wir heute als ihr Erbe hüten und gestalten.
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