MITSUKO – Mutter des modernen Europa?
Vlasta Čiháková
Noshiro, Japanologin und Kunsthistorikerin in Prag, publiziert im Rahmen der EUROPÄISCHEN BRIEFE der Europa-Gesellschaft Coudenhove-Kalergi
Im Frühjahr 2015 wurde meine
Biographie über Mitsuko Coudenhove-Kalergi und ihre Familie veröffentlicht.
Journalisten bezeichneten Mitsuko schon 1930 als „die Mutter des modernen Europa“,
weil sie den Begründer der Paneuropa-Union, Richard Coudenhove-Kalergi, zur
Welt brachte. Seine Vision war ein vereintes, modernes Europa. Ich möchte die
Idee vorstellen, dass die globalisierte Zukunft Europas den
„grenzüberschreitenden Familien“ gehören wird, gemäß dem Beispiel der Familie
Coudenhove-Kalergi, der es gelang, zumindest zwei Kulturen, zwei Sprachen und
zwei Zivilisationen mit ihrem jeweiligen Lebensstil zu verbinden. Aufgrund der
Fortschritte in Informationswissenschaft und Globalisierung wird die Zukunft
die überholte Vorstellung nationaler Staatlichkeit beseitigen, zugunsten einer
wertschätzenden und gleichberechtigten Beurteilung der Völker und eines offenen
Dialogs im multikulturellen Zusammenleben in Europa.
Richard ist auf dem Familienschloss
im böhmischen Ronsperg aufgewachsen. Er wurde von seiner japanischen Mutter
Mitsuko und seinem Vater Heinrich, einem Aristokraten, Christen, Humanisten und
Zionisten, aufgezogen. Dieser unterstützte schon an der Wende vom 19. zum 20.
Jahrhundert eine Form von europäischer Föderation im Rahmen des
Österreichisch-Ungarischen Reiches. Richard studierte am Theresianum in Wien,
das als Eliteschule für die Aristokratie und die Oberklasse seit der Zeit von
Kaiserin Maria Theresia betrachtet wurde. Seine Mitschüler waren Deutsche,
Ungarn, Polen, Tschechen, Italiener, Rumänen, Kroaten und Slowenen. Außer den
Nationalitäten der Donaumonarchie wurde die Schule von Mitschülern aus
Russland, der Türkei, Indien, Ägypten, Persien und China besucht. Ihre Freundschaften
und Feindschaften wurden nur durch persönliche Ansichten und
Charakterunterschiede bestimmt. Die alte Aristokratie fühlte niemals
nationalistisch, sondern europäisch und offen.
1923 entwarf Richard
Coudenhove-Kalergi die Paneuropäische Union als eine Föderation von autonomen
und unterschiedlichen Nationen auf übernationaler Basis mit gemeinschaftlichem
Wirtschaftswachstum. Jede nationale und rassische Intoleranz sollte beseitigt
werden, um das friedliche Zusammenleben der Völker zu verteidigen und den
kulturellen Fortschritt unabhängig von der jeweiligen Sprache und den
nationalen Besonderheiten zu fördern.
Seine Vorstellung von europäischer Identität oder der europäischen Seele legten die Grundlagen
für die heutigen humanistischen Prinzipien der Europäischen Union. Über
Jahrhunderte wurden diese durch geographische und geopolitische Realitäten im
Zusammenleben der Nationen geformt. Sie beruhten nicht auf einer Blut- oder
Rassengemeinschaft, sondern auf geistigen Werten: „Das Dogma des europäischen
Nationalismus erklärt die Nationen für Blutsgemeinschaften. Dieses Dogma ist
ein Mythos. Nach den zahlreichen Völkerwanderungen, die unser Erdteil in
prähistorischer und historischer Zeit durchlebt hat, kann es in Europa keine
reinen Rassen mehr geben. Alle Völker Europas sind Mischvölker: Mischlinge der
nordischen, alpinen und mediterranen Rasse…“ (Pan-Europa, 1923; Kap. „Das Wesen
der Nation“). Richard anerkannte nur eine einzige europäische Nation,
vergleichbar einem Baum mit einem Stamm und vielen Ästen. Seiner Ansicht nach
sahen Nationalisten nur die Äste und verwechselten sie mit Bäumen, weil sie den
Stamm nicht sahen. Seine politische Ethik und die Einheit Europas beruhte auf
der Erziehung. Er respektierte eine Erkenntnis, die gegenüber der Religion ihre
eigene
Autorität erringt. Er
proklamierte ein moralisches System sozialer Normen, das sich aus der
Verbindung von Ethik und Ästhetik ergab, und das er Hyperethik nannte.
„Ich habe mich gefragt, ob es
eine andere Grundlage für die Moral geben könnte als religiöse Dogmen, und fand
die Antwort im antiken Griechenland und im Fernen Osten. Beide Kulturräume (die
Antike und der Zen-Buddhismus) beruhen auf einer Ethik, die nicht von der
Religion herrühren, sondern von der Schönheit. Ethik ist die Ästhetik der
Seele, die Lehre von der Schönheit in uns, so wie die Ästhetik die Lehre von
der Schönheit um uns ist. Dies sind nicht zwei Werte, sondern ein einziges
gewaltiges Wertesystem, welches sowohl Ethik als auch Ästhetik verbindet.“
Als Japanologin und Kunsthistorikerin
schätze ich diesen Ansatz außerordentlich. Insbesondere unter dem
erzieherischen Einfluss von Richards japanischer Mutter – die in der Erziehung
der Kinder die buddhistische Philosophie mit dem christlichen Glauben verband
–wurde den Kindern möglich, zwischen einem reinem Patriotismus und dem
militanten Nationalismus zu unterscheiden. Infolge ihrer Heirat war sie zum
Christentum konvertiert, aber der durch den chinesischen Konfuzianismus
modifizierte Buddhismus war für sie ein gleichwertiges Gegenstück zum
Christentum, in Bezug auf den Monotheismus, den Begriff der individualistischen
Moral und die Achtung für eine Hierarchie sozialer Werte. Buddhismus beinhaltet
den Sinn für Friedfertigkeit, Demut, Respekt, Toleranz wie auch Bescheidenheit und
Vornehmheit in der Kunst des japanischen Volkes.
Auch ich schätze Richard
Coudenhove-Kalergis Vision, im Sinn der Paneuropa-Union Böhmens und Mährens,
die 1926 in der Tschechischen Republik mit Unterstützung des ersten Präsidenten
Thomas G. Masaryk gegründet wurde. Paneuropas Aktivitäten wurden nach dem
Zweiten Weltkrieg über 40 Jahre durch das kommunistische Regime unterdrückt,
bis 1989 die demokratischen Traditionen Tschechiens unter der geistigen Ägide
von Präsident Vaclav Havel wiederhergestellt wurden. Ich bin eine Befürworterin
seiner humanistischen Philosophie und seines moralischen Standpunktes, dass
„Wahrheit und Liebe die Lügen und den Hass besiegen werden“. Dieses Zitat
entspricht unseren Erwartungen für die heutige „europäische Antwort“ an die
Welt, sowohl was die Behandlung der Flüchtlingskrise als auch was die
Bekämpfung des muslimischen Terrorismus anlangt. Es wird dies die Bedeutung der
geistigen Tradition Europas und seiner Kultur bestätigen. Richard
Coudenhove-Kalergi schrieb in seiner Proklamation Paneuropas: „Die Liebe zum
eigenen Land wird durch den Respekt für fremde Länder ergänzt, und dies wird
das Fundament für die kulturelle Wiedergeburt Europas legen.“
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