EUROPAS VERANTWORTUNG IN GEFÄHRLICHER ZEIT

EUROPÄISCHE BRIEFE der Europa-Gesellschaft Coudenhove-Kalergi, Artikelverfasser Stephan Baier Die EU und ihre 28 Mitglieder sind der weltweit größte Geber von Entwicklungshilfe und mit 510 Millionen Bürgern die größte Handelsmacht der Welt, aber in der Durchsetzung ihrer Interessen und Ideale sind sie weiterhin zahnlose Tiger. Das liegt auch, aber nicht nur an strukturellen Defiziten. Wir Europäer haben es uns im Windschatten der Weltpolitik allzu bequem gemacht: Im Kalten Krieg hatten Washington und Moskau das Sagen, nach 1991 träumten wir von einem paradiesähnlichen „Ende der Geschichte“, dann riss Amerika die Weltpolizistenrolle an sich. Allzu sehr haben wir uns daran gewöhnt, um unsere eigene Befindlichkeit kreisen zu können: Heute ist die einst stolze Weltmacht Großbritannien ganz mit ihrem Brexit beschäftigt, die einstige Seemacht Spanien mit Katalonien, Deutschland und Österreich mit ihren Regierungsbildungen. Und die EU hat vor allem mit den Pubertätsproblemen ihrer Mitgliedstaaten zu tun. Es ist höchste Zeit, aufzuwachen! Wir leben in einer chaotischen und gefährlichen Zeit. Russland will nicht mehr eine Großmacht Europas sein, wie von Zar Peter dem Großen bis zur Oktoberrevolution 1917, auch nicht Widerpart Westeuropas und Hegemon Osteuropas, wie in der Sowjetperiode bis 1991 – sondern Gegenmodell oder Vormund Europas. Auch die Türkei, die sich seit Juli 2016 zum autoritären Staat entwickelt, sieht sich nicht länger als Peripherie Europas, sondern – wie einst das Osmanische Reich – als Zentrum einer größeren eurasischen Region, die vom Balkan über den Kaukasus bis in den Mittleren Osten reicht. Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan sehen ihre Länder als Zentren eines größeren Machtraums, den sie beherrschen wollen: Darum stehen russische Soldaten auf georgischem (Südossetien, Abchasien) wie auf ukrainischem (Krim, Donbas) Hoheitsgebiet, in Armenien und Transnistrien, darum bastelt Putin an einer Eurasischen Union und missachtet die Souveränität von Nachbarstaaten. Darum gibt Erdogan den Regierungen von Aserbaidschan, Bosnien-Herzegowina, Albanien und Kosovo Ratschläge in Befehlsform, darum interveniert die Türkei in Syrien und im Irak, darum macht die AKP Wahlkämpfe in Deutschland und Österreich. Und darum verstehen sich Erdogan und Putin – nach einer Beziehungskrise 2015 – so prächtig: Die autoritären Führer zweier regionaler Großmächte, die sich nicht nur von der EU abwenden, sondern auch von den demokratiepolitischen und rechtsstaatlichen Idealen Europas. Nicht nur die USA und China predigen und leben einen staatlichen Egoismus und verlachen den europäischen Idealismus, auch die Regionalmächte haben ihre je eigene Version von Fortschritt entwickelt. Im Mittleren Osten, den die Europäer vor einem Jahrhundert – nicht geschickt und auch nicht selbstlos, wie man gestehen muss – neu ordneten, findet ein eskalierender Krieg der Regionalmächte statt, in dem die Europäer nahezu keine tragende Rolle spielen. Saudi-Arabien und der Iran liefern sich seit Jahren erbitterte, blutige Stellvertreterkriege in Syrien und im Jemen, destabilisieren durch ihren Einfluss den Libanon und verjagen damit vielleicht die letzten arabischen Christen. Europa sieht ohnmächtig zu. In Afrika macht sich – auf der Suche nach Rohstoffen und Märkten – der chinesische Riese breit, aber auch ein von Saudi-Arabien subventionierter salafistischer Islam, der gegen die traditionelle christlich-islamische Koexistenz kämpft. Gleichzeitig droht aus Afrika die größte denkbare Völkerwanderung Richtung Europa. Vor der Haustüre Europas leben Menschen, denen keiner in ihrem Überlebenskampf hilft, wenn nicht wir Europäer helfen. Europa hat Ideale, aber es hat auch die Verantwortung, ihnen zur Durchsetzung zu verhelfen.

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