EUROPÄISCHE PERSPEKTIVE AUS TSCHECHISCHER SICHT
Daniel Herman, Ex-Kulturminister der tschechischen Republik in den EUROPÄISCHEN BRIEFEN der Europa-Gesellschaft Coudenhove-Kalergi
Letztes Jahr sind bereits 100 Jahre vergangen, seit Ende des Großen Krieges und zugleich des Zusammenbruchs der beiden Mitteleuropäischen Monarchien, Deutschlands und Österreich-Ungarns. Deutsche, Österreicher, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Juden, Polen, Italiener, Südslaven, Roma und Angehörige anderer Völker haben Jahrhunderte Seite an Seite die Identität Mitteleuropas gebildet.
Die unheilvollen Ereignisse des 20. Jahrhunderts haben diese engen Bindungen verletzt, zerrissen und einige definitiv zerstört. Zwanzig Jahre nach dem Ende des I. Weltkrieges wollte das nationalsozialistische Regime in Deutschland expandieren und hat den II. Weltkrieg heraufbeschworen.
Einige Völker, vor allem die Jüdische und die Roma Gemeinschaft, sind fast gänzlich ausradiert worden. Die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen wurden durch die Verbrechen der Nationalsozialisten ruiniert. Damit jedoch nicht genug. Denn gegen Kriegsende nahm die Begierde nach Rache und Vergeltung für diese Kriegsverbrechen die grauenvolle Gestalt von Verbrechen eines Teils der tschechischen Bevölkerung gegen die deutschsprechenden Mitbürger an und dies auch noch mehrere Monate nach der Unterzeichnung internationaler Abkommen, die das Kriegsleid beenden sollten.
Das gefährliche Prinzip, das diese furchtbaren Taten ermöglichte, wurde auf der Fiktion der Kollektivschuld auf Basis der ethnischen Herkunft aufgebaut. Nur so konnte Tausenden Menschen ihre Bürger- und Menschenrechte, ihr Eigentum, ihre Ehre und in vielen Fällen auch ihr Leben genommen werden.
Dieses Prinzip wurde durch die Überzeugung verstärkt, dass man den freien Menschen auf seine Ethnizität oder auf eine Rasse oder Klasse reduzieren kann. Deshalb müssen wir jedes Mal auf der Hut sein, wenn einem Menschen die Möglichkeit der freien Wahl entzogen wird und er automatisch irgendeiner Gruppe zugeordnet wird.
Gott sei Dank leben wir heute wieder in einem gemeinsamen Europäischen Haus, das wir auf den Prinzipien der Verantwortung und Freiheit des Einzelnen zu erbauen versuchen, aber auch auf der Überzeugung, dass lediglich die Versöhnung einen festen Grundstein für unsere gemeinsame Zusammenarbeit legen kann.
Wir sind uns durchaus der Gefahren bewusst, die heutzutage auf uns lauern. An der Schwelle Europas stehen nicht nur unglückliche Menschen, sondern auch Bewaffnete, die nicht unsere gemeinsamen Werte teilen. Es ist die Zukunftsangst, die in unsere Gesellschaft eingekehrt ist und in unseren Straßen und Medien können wir auch immer öfter Worte des Hasses hören.
Die eigenen Werte und Traditionen auf der einen Seite zu schützen und auf der anderen Seite Nächstenliebe zu zeigen und solidarisch zu sein, ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit und unsere Aufgabe ist es diese Aufgabe im europäischen Haus gemeinsam anzugehen. Der ehemalige tschechische Präsident Václav Havel sagte einst: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal, wie es ausgeht“. Sorgen wir dafür, dass diese Wahrheit in die Tat umgesetzt wird.
Wir dürfen jedoch unsere Chance nicht vergeuden. Wir müssen versuchen, stetig an unserem gemeinsamen Europäischen Haus weiterzubauen, das uns unsere Vorfahren überlassen haben und wir müssen bereit sein, es gegen jeden zu verteidigen, der versucht erneut Hass, Trennung und Angst zu säen, damit das europäische Projekt des Friedens und der Freiheit nicht durch Populismus und kurzsichtige nationale Interessen bedroht wird.
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